4. August 2015

Aus "Schwarzes Loch" von Thomas Gollas S.114 - 116

Sein erstes Erlebnis mit Gott habe er in der zweiten Klasse der Volksschule im Alter von sieben Jahren gehabt. Er habe da eine alte, asketisch strenge, verknöcherte, bigotte und niemals lächelnde, geschweige denn lachende Jungfer als Religionslehrerin gehabt – mit streng nach hinten gekämmten, dünnen Haaren und einem kleinen lächerlichen Knoten – leibliche Schwester und gleichzeitig Pfarrfrau des Pfarrers im Nachbarort. In einer der ersten Religionsstunden habe diese Person jeden einzelnen Schüler, durch die Schulbänke von vorne nach hinten gefragt, ob er an Gott glaube. Jeder habe die offensichtlich erwartete Antwort gegeben, nämlich: Ja! Als Merz an der Reihe gewesen sei, habe er, wahrscheinlich aus reinem Eskapismus, aus Neugier auf die Reaktion, aus kindlicher Lust an Provokation und spielerischem Trotz mit Nein! geantwortet – und sei in diesem Moment wahrscheinlich näher bei Gott gewesen als jeder andere – gleichwohl habe er aber daraufhin sofort und geradezu körperlich die ganze Aufmerksamkeit, Energie und Wut dieser dünnen, hochnäsigen und wahrscheinlich wahnsinnigen Frau gespürt. Seine Klassenkameraden hätten den Atem angehalten und ihn alle zugleich erschrocken angestarrt, weil ihnen die Explosivität seiner offenbar unerhörten Antwort schlagartig bewußt geworden sei. Schließlich habe sich die Empörung und Wut der Religionslehrerin in Form einer apokalyptischen Anklage gegen ihn entladen, wie er es nie wieder im Leben habe hören müssen. Demnach war er der größte Sünder und Verbrecher aller Zeiten, ein Verirrter, möglicherweise eine Ausgeburt der Hölle, ja, wahrscheinlich der Antichrist, der nur mit größter Disziplin, mit totaler Hingabe an Gott und nur mit zukünftig absolut sündenfreiem Leben vielleicht eine kleine Chance habe wieder in die Gemeinschaft der Gotteskinder aufgenommen zu werden und an der Barmherzigkeit Gottes teilzuhaben. Er, Merz, sei also schon im Alter von sieben Jahren beim lieben Gott unangenehm auf- gefallen und wisse bis heute nicht, ob er zwischenzeitlich einen Teil seiner monströsen Schuld abtragen konnte oder ob sein Platz in der Hölle nach wie vor freigehalten werde.

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