12. Dezember 2017

Aus »Schwarzes Loch« von Thomas Gollas S.13/15

Merz beklagt, daß es ihm nicht gelinge seine Selbsttötung endlich in Angriff zu nehmen. Stelle er sich vor, er bewege sich, nach seinem endgültigen Entschluß und mit dem Auto stark beschleunigend, auf den dicken Baum am Straßenrand zu, tauche beim weiterführenden Gedanken sofort beispielsweise ein Radfahrer auf, der ihn gerade im entscheidenden Moment mit Sicherheit behindern würde, oder ein Fußgänger, vielleicht auf der anderen Straßenseite, dem er dies nicht antun könne, sodaß er sein Vorhaben abbrechen müsse. Selbst wenn er davon ausgehe, daß er die tödliche Dosis Schlaftabletten irgendwie beschaffen könne – was ihm wahrscheinlich allein schon so gut wie unmöglich sei – was würde ihm im Kopf herumgehen, im Zeitraum zwischen Einnahme und einsetzender Wirkung? Das gleiche gelte für die Autoabgasmethode, stellt Merz fest. Der kurze Druck auf den Abzug einer Pistole erscheine ihm noch am ehesten durchführbar. Manchmal, in größter Verzweiflung, habe er so große Sehnsucht nach einer Pistole, daß er laut danach schreie, nachts, wach in seinem Bett liegend. Er sei aber zweifellos nicht in der Lage sich eine Pistole zu beschaffen. Er sei überzeugt, daß ihm jeder sofort ansehen würde, was er damit zu tun vorhabe. Das Gleiche gelte beispielsweise für den Apotheker, noch eher für die Apothekerin, von der er sich die Tabletten versuchen würde zu besorgen. Ebenso gelte dies für den zufälligen Spaziergänger, den er mit Sicherheit treffe, unterwegs zu der hohen Brücke. In U-Bahnhöfen werde mit Sicherheit immer, zu jeder Tages- und Nachtzeit, jemand sein, der ihn beobachten würde, bei seinem letzten Gang in die Tunnelröhre. Man würde nach ihm rufen, ihn zurückhalten versuchen. Nicht auszuhalten sei diese Vorstellung von Zeugen bei dieser letzten Aktion, dem wohl absolut Intimsten, was man sich vorstellen könne. Merz beklagt, daß ihm kriminelle Energie fehle und also die Eigenschaft, die es einem ermögliche, andere zu hintergehen, zu täuschen, zu betrügen, zu benutzen. Allein schon das Sich-los-reißen im entscheidenden Moment sei ihm mit absoluter Gewissheit mangels Durchsetzungskraft  nicht möglich. In einer verbrecherischen Gesellschaft, so Merz, sei man ohne Verbrechertalent und also der nötigen Skrupellosigkeit von vorneherein zum Scheitern verurteilt. Merz jammert über seine Ehrlichkeit, seine krankhafte Korrektheit. Denke er etwa an den betreffenden U-Bahnfahrer, so müsse er sofort zumindest die U-Bahn-Methode verwerfen. In einem Brief an meinen U-Bahnfahrer habe er versucht seine Handlungsweise zu rechtfertigen. Es sei ihm nicht befriedigend gelungen. Gescheitert sei er ebenso mit seinem Brief an meine Apothekerin, mit seinem Brief an die Mutter meiner Kinder, mit seinem Brief an meinen Polizisten und mit seinem Brief an den zufälligen Passanten. Seine gesammelten Abschiedsbriefe füllten mittlerweile einen dicken Ordner. Merz stellt fest, es seien ausnahmslos mißlungene Texte. Er vermutet, daß er wohl zu denjenigen gehöre, die sich, oben auf dem Dach des Hochhauses, am Abgrund stehend, von dem für solche Fälle psychologisch geschulten Feuerwehrmann oder Rettungssanitäter überreden lassen, aufzugeben und weiterzuleben