30. September 2014

Zitat des Tages

»Nicht was er schreibt, ist das vorrangige Ziel des Schriftstellers. Sein vorrangiges Bedürfnis ist das Schreiben. Schreiben heißt, sich von der Welt und von sich selbst zu absentieren. [...] Ich schrieb, um die Angst zu bannen. Irgend etwas. Ich war ein Schreiber. Der Schreiber wird zum Schriftsteller, wenn sein Bedürfnis zu schreiben von einem Thema getragen wird, das es erlaubt und verlangt, dieses Bedürfnis zu einem Projekt zu organisieren. Wir sind Millionen, die ihr Leben mit dem Schreiben verbringen, ohne je etwas zu vollenden oder zu veröffentlichen.« 
André Gorz, 2006

29. September 2014

Peter Handke bei Gruppe 47 in Princeton 1966

Noch vor der Auslieferung seines Erstlingsromans im Frühjahr 1966 machte Handke, der damals eine Pilzkopf-Frisur im Stil der Beatles trug, durch einen spektakulären Auftritt auf einer Tagung der Gruppe 47 in Princeton auf sich aufmerksam. Nach stundenlangen Lesungen zeigte er sich angewidert von den Werken seiner etablierten Kollegen und hielt eine längere Schmährede, in der er die „Beschreibungsimpotenz“ der Autoren beklagte und auch die Literaturkritik nicht verschonte, „die ebenso läppisch ist wie diese läppische Literatur“. Mit dieser Rede hatte er zugleich einen Tabubruch begangen, da es auf den Treffen der Gruppe 47 unüblich war, allgemeine Grundsatzdebatten über literarische Themen anzuzetteln. Grundlage der Gespräche sollte immer der jeweilige Text bleiben, nicht das Wesen von Literatur an sich. Eine erhaltene Tonbandaufnahme zeugt davon, dass Handke Gelächter, Gemurmel und Zwischenrufe erntete, und obwohl er einige Kollegen, unter ihnen Günter Grass – wie sich an deren späteren Kommentaren zeigen sollte – durchaus getroffen hatte, wurde seine Kritik von anderen Teilnehmern vereinnahmt, umformuliert und – etwas abgeschwächt – wiederholt und blieb im Großen und Ganzen unwidersprochen. Handke hatte das literarische Establishment ins Mark getroffen, und für die Feuilletons war sein Auftritt zu einem Diskussionsthema geworden.
Handkes Attacke gegen die so genannte „neue Sachlichkeit“ beginnt nach der Lesung von 
Hermann Piwitt (bei Minute 15:00 des Tondokuments) in der Gruppe 47-Veranstaltung in Princeton 1966 
 http://german.princeton.edu/landmarks/gruppe-47/recordings-agreement/recordings/
Transkription: Thomas Gollas
„Ich möchte zu dieser Art von Literatur, die hier bei der Gruppe 47, wie auch zu dieser eben vorgetragenen Prosa, einige Sätze bemerken, die ich im Verlauf dieser Lesung versucht habe aufzuschreiben. Ich bemerke, dass in der gegenwärtigen deutschen Prosa eine Art Beschreibungsimpotenz vorherrscht. Man sucht sein Heil in einer bloßen Beschreibung, was von Natur aus schon das Billigste ist, womit man überhaupt Literatur machen kann. Wenn man nichts mehr weiß, dann kann man immer noch Einzelheiten beschreiben. Es ist eine ganz ganz unschöpferische Periode in der deutschen Literatur angebrochen und dieses komische Schlagwort vom „neuen Realismus“ wird von allerlei Leuten ausgenützt um doch da irgendwie ins Gespräch zu kommen, obwohl sie keinerlei Fähigkeiten und keinerlei schöpferische Potenz zu irgendeiner Literatur haben. Es wird überhaupt keinerlei Reflexion gemacht. Es wird eine Philosophie vorgegeben, eine Weltanschauung vorgegeben, in dem man so tut, als gebe es nur die Beschreibung von Einzelheiten und Vorgängen und das ist auch eine Art „Cinema verité“ der Literatur, nach meiner Ansicht. Es ist zwar zu sehen, dass gewisse Fehler der alten Literatur nicht mehr gemacht werden, z.B. wird mit Metaphern sehr vorsichtig umgegangen, aber es ist zu beobachten, dass also vor allem die Errungenschaften dieser neuen Literatur in einer Negation bestehen, dass also die Fehler oder die Klischees der alten Literatur zwar abgeworfen wurden, dass aber das Heil keineswegs in einer neuen Position gefunden wurde, sondern in einer ganz primitiven und öden Beschränkung auf diese so genannte „neue Sachlichkeit“. Und auch die Form dieser neuen deutschen Prosa ist fürchterlich konventionell, vor allem im Satzbau, in der Sprachgestik überhaupt. Auch wenn die einzelnen Worte, also wie gesagt, metaphernlos sind, ist die Gestik dieser Sprache völlig öd und den Geschichten der früheren Zeiten fürchterlich ähnlich. Das möcht‘ ich doch behaupten. (kleine Pause, Gemurmel im Publikum) Es ist hier eine Prosa zu sehen und das Übel dieser Prosa besteht darin, dass man sie ebenso gut aus einem Lexikon abschreiben könnte. Man könnte den Sprachduden, äh,  diesen Bilderduden verwenden und diese Bilder aufschlagen und auf die einzelnen Teile hinweisen und dieses System wird hier angewendet  und es wird vorgegeben Literatur zu machen, was eine völlig läppische und idiotische Literatur ist. (aufbrausendes Gelächter des Publikums, auch Applaus) Und die Kritik ist damit einverstanden, weil eben ihr überkommenes Instrumentarium noch für diese Literatur ausreicht, gerade noch hinreicht. (wieder durchaus wohlwollendes Gelächter des Publikums) Weil die Kritik ebenso läppisch ist, wie diese läppische Literatur. Wenn nun eine neue Sprachgestik auftaucht, vermag die Kritik nichts anderes, als entweder zu sagen, das ist langweilig, sich in Beschimpfungen zu ergehen, oder eben auf gewisse einzelne Sprachschwächen einzugehen, die sicher noch vorhanden sein werden. Das ist die einzige Methode. Weil die Kritik, das Instrumentarium, das überkommene, eben hier nicht mehr hinreichen kann, während sie bei dieser läppischen Beschreibungsliteratur eben noch hinreicht, weil‘s eben hier adäquat ist. Das Instrumentarium der Kritik ist genau dieser Literatur adäquat, die hier vorhanden ist.“ (Aus dem Publikum:  „Herr Handke! Stopp mal! Sie müssen zum Text sprechen“) Handke: „Ja, darf ich noch was sagen? Also es ist die Hauptsache (? Unverständlich) in so einer Literatur, dass die so genannte deutsche Gegenwart vorkommt. Es muss irgendwo, hinter der Hose, muss irgendwie auch Auschwitz auftauchen, wenn auch nur in einem sogenannten Nebensatz, oder ganz beiläufig, oder es muss jedenfalls beiläufig oder ganz lässig muss es da sein, und, wobei man gar nicht bedenkt, dass …“
(Gelächter, Handke wird von Veranstaltungsleiter unterbrochen: „Ja ich habe nicht soviel Zeit, wir wissen jetzt genau, was sie meinen.“ Unruhe, Gemurmel und andere aus dem Publikum unterstützen offenbar Handke, „na ja gut, weiter“, und er bekommt nochmal das Wort.) Handke: „Na ja ich möchte nur nochmal sagen … (Fassen sie sich kurz, bitte Herr Handke!“) Handke: „Ich fasse mich so kurz wie möglich, aber das ist, glaub‘ ich notwendig.“ („aber kein Seminar!“) Handke: „Nein, man sagt zwar, man wisse, was man nicht mehr schreiben dürfe, nicht? und man beschränkt sich nun auf diese gegenständliche Prosa und man schreibt also Sachen, die … man beschreibt nur Gegenstände … , man weiß zwar, was man schreiben darf aber man weiß nicht was man nun schreiben soll, nicht!, das ist glaub‘ ich das Grundproblem dieser ganz dummen und läppischen Prosa, in jedem Fall.“
Günter Grass: „Also ich neige ja ohnehin dazu, mich betroffen zu fühlen“ … (Gelächter… Grass sagt nun, dass sich auch bei ihm einiges aufgestaut habe, dass er sich frage, warum Germanisten Prosa schreiben müssten, die sich selber im Weg stünden und Angst vor jedem normalen Satz hätten, usw. und er gibt Handke völlig recht. Auch Hellmut Karasek gibt Handke teilweise recht, nimmt aber auch die kritisierte Literatur in Schutz.)

28. September 2014

Aus "Schwarzes Loch" von Thomas Gollas S.34-38

Merz erläutert, in der Hauptsache habe ihr mit sehr viel und wahrscheinlich übertriebenem Ehrgeiz betriebener sogenannte berufliche Werdegang sie zu einem anderen, sehr veränderten und schließlich zu einem völlig fremden Menschen gemacht. Mehr und mehr sei sie zu einer Lehrerin geworden. Zuerst habe die Ehefrau die Geliebte verdrängt, bis die Geliebte nicht mehr da gewesen sei, dann habe die Mutter die Ehefrau verdrängt, bis die Ehefrau nicht mehr da gewesen sei und schließlich habe die Lehrerin die Mutter verdrängt, bis die Mutter nicht mehr da gewesen sei. Man könne sich als der betroffene Mann nichts Schlimmeres vorstellen, als daß das Geliebte-Sein über das Ehefrau-Sein und über das Mutter-Sein schließlich zu einem Lehrerin-Sein werde. Entsetzlich genug sei es ja schon, wenn die Geliebte zu einer Ehefrau werde. Grauenhaft genug, sei es, wenn die Ehefrau zu einer Mutter werde – wodurch sie früher oder später in der Familienalltäglichkeit sogar von ihrem Mann, der einmal ihr Geliebter war, Mama genannt werde. Aber das größte Unglück sei es zweifellos, wenn die Mutter dann auch noch zu einer Lehrerin werde. Lehrerin, das heiße notwendigerweise Lehrermethoden, das heiße Denken und Handeln in Lehrerkategorien, das heiße Belohnung, Bestrafung, Lob, Tadel unter ausschließlicher Zuhilfenahme von Lehrerkriterien. Lehrerkriterien, Lehrerkategorien, Lehrermethoden seien jedoch etwas ganz anderes und ungeheuerlicheres als Mutterkriterien, Mutterkategorien, Muttermethoden, genauso wie Mutterkriterien, Mutterkategorien, Muttermethoden etwas ganz anderes und ungeheuerlicheres seien als Ehefraukriterien, Ehefraukategorien, Ehefraumethoden, und so seien Ehefraukriterien, Ehefraukategorien, Ehefraumethoden eben auch etwas völlig anderes und ungeheuerlicheres als Liebeskriterien, Liebeskategorien, Liebesmethoden. Lehrerin, das heiße eben Lehrerregeln – nicht Mutterregeln, nicht Eheregeln, nicht Liebesregeln – das heiße beispielsweise Beurteilen von sehr gut bis ungenügend in sechs Notenstufen. Basta und punktum. Lehrerin, das heiße permanente Eintragungen in das Lehrerbüchlein, in dem unter dem Namen jedes Schülers alles und jedes notiert werde, damit am Ende des Schuljahres genügend Material zur Verfügung steht um Zeugnisse ausstellen zu können. Am Ende jeden Schuljahres habe schließlich der Lehrermensch rücksichtslos ein Lehrerurteil in Form eines Zeugnisses auszustellen und auszuhändigen. Dieses Urteil habe endgültig und gegen jeden Zweifel erhaben zu sein. Nur ein immer Recht habender Lehrermensch könne ein funktionierender Lehrer sein. Lasse ein Lehrer den kleinsten Zweifel an seiner Urteilsfähigkeit zu, erlaube sich der Lehrermensch die geringsten Skrupel, unterhöhle er naturgemäß seine Autorität und die Folge sei das unausweichliche Scheitern als Lehrer. 
Die Lehrernatur, die sich seine Lehrerfrau im Laufe ihrer Lehrerjahre angeeignet habe, so Merz, sei mehr und mehr und zwangsläufig auch in das private Leben und also in den Familienalltag eingeflossen. Merz selbst habe diese Zusammenhänge zunächst garnicht bemerkt und sei dieser Verwandlung der Natur seiner Frau in eine Lehrernatur absolut hilflos gegenübergestanden. Er, Merz, als schöpferischer und damit notwendigerweise zweifelnder und damit notwendigerweise an sich selbst verzweifelnder Mensch sei blindlings in die Katastrophe getappt. Daß die Mutter seiner Frau und also seine Schwiegermutter ebenfalls Lehrer gewesen war und daß deren Vater und also der Großvater seiner Frau mütterlicherseits Lehrer gewesen war und daß der Vater seiner Frau  und also sein Schwiegervater Staatsbeamter war, wenn auch in anderer Funktion, und dessen Vater, also der Großvater seiner Frau väterlicherseits wiederum Lehrer gewesen war, daß es sich also bei der Familie und den Ahnen seiner Frau um eine Lehrerfamilie und eine Staatsbeamtenfamilie, und also sozusagen um eine Lehrerdynastie und eine Staatsbeamtendynastie handelte, traue er sich gar nicht recht zu erwähnen, da ihm dann spöttische Reaktionen wie: Aber dann hätten sie das doch wissen müssen! und: Dann sind sie doch selbst schuld! und: Man heiratet doch als schöpferischer Mensch keine Frau aus einer Lehrer- und Staatsbeamtendynastie! sicher seien, befürchtet Merz. Mehr und mehr habe seine Frau – der Lehrermensch aus einer Lehrerdynastie – das Familienleben lehrergemäß organisiert und reglementiert, wie man eine Schulklasse eben organisiere und lehrergemäß reglementiere. Wer hat Tafeldienst? Wer sammelt die Hefte ein? Wer gießt die Blumen? Wer hat Verantwortung zu übernehmen und wie wird er seiner Verantwortung gerecht? Sehr gut? Gut? Befriedigend? Ausreichend? Mangelhaft? Ungenügend? Seine Frau sei durch das völlige Eintauchen in die Lehrerexistenz tragischerweise der Lehrerselbstgerechtigkeit, der Lehrerignoranz, des Lehrerhochmuts und somit der Lehrerselbstüberschätzung und also letztlich ganz und vollkommen der Lehrernatur erlegen. Hinzu käme, so Merz, und dies sei möglicherweise das eigentliche Unglück, daß er selbst sich, während seine Frau sich in einen Lehrermenschen verwandelt habe, beziehungsweise sich das Lehrerwesen seiner Frau immer mehr entpuppt hätte, mehr und mehr in einen Zweifelsmenschen und also in einen verzweifelten Menschen verwandelt habe. Auf der einen Seite sei ein lieber und geliebter Mensch zu einem Lehrermenschen geworden, während gleichzeitig auf der anderen Seite ein lieber und geliebter Mensch zu einem Zweifels- und also zu einem Verzweiflungsmenschen geworden sei. Schließlich habe seine Frau in unbarmherziger Rücksichtslosigkeit und mit der im Laufe ihrer Lehrerjahre zwangsläufig sich angeeigneten Lehrerskrupellosigkeit mit dem äußersten Lehrermittel reagiert und habe ihn – Ungenügend! Setzen! – sitzengelassen und aus ihrer Schule und damit aus ihrem Lehrerleben verwiesen.

Aus "Schwarzes Loch" von Thomas Gollas S.235/236

Mehr habe ich von Merz nicht zu berichten. Ich habe nie wieder etwas von ihm gehört. Verschwunden, als habe ihn der Erdboden verschluckt. Aber dagewesen, zweifellos. Manchmal, wenn ich Obdachlosen, Bettlern und sogenannten Pennern begegne, schaue ich sie mir jetzt genauer und mit wesentlich größerem Interesse an, als früher, als könne ich ihn, Merz, unter diesen Gestrauchelten und wie gesagt wird Heruntergekommenen wiederfinden. 
Bei irgendeinem unserer Zusammenkünfte, möglicherweise auch in einem seiner Texte, hatte er mir einmal die sogenannten Schwarzen Löcher erklärt. Schwarze Löcher seien, so hatte Merz erläutert, astrophysikalische Phänomene, die seit einiger Zeit von den Astronomen und Physikern immer häufiger im All entdeckt, zumindest aber vermutet würden. Diese Gebilde zeichneten sich dadurch aus, daß sie wegen ihrer großen Masse, die dem Millionen- und Milliardenfachen einer Sonne entspreche und also wegen unvorstellbarer Massenanziehungskräfte, alles verschlängen und sich zu eigen machten, was in ihre Nähe gerate. Somit nehme die Masse eines schwarzen Lochs immer mehr zu und der Raum werde in der Nähe eines schwarzen Lochs so stark gekrümmt, daß aus diesem Raumschlund nichts entweichen könne, nicht einmal das Schnellste, das Licht. Da es im schwarzen Loch nichts anderes mehr als eben das schwarze Loch gebe, sei auch eine Relation zwischen zwei Dingen und also Bewegung und also letztlich Zeit nicht mehr existent. Irgendwann werde sich irgendein schwarzes Loch durchsetzen und das ganze Universum verschlingen, mit der Folge eines neuerlichen sogenannten Urknalls, mit dem möglicherweise alles wieder von vorne beginnen müsse. 
Am allermeisten, so Merz damals, und im höchsten Maße unbefriedigend, empfinde er den Umstand, daß am Ende, wo doch schließlich am meisten gewußt werde und wo sich alle Erfahrungen, Erkenntnisse und Einsichten in einem Punkt bündelten – ähnlich möglicherweise diesem Phänomen des sogenannten schwarzen Lochs – nichts mehr davon weiterzugeben und zu vermitteln möglich sei. Hier angelangt, so Merz, herrsche die größtvorstellbare und also eine Art unendlich verdichtete Sprachlosigkeit.