Noch vor der Auslieferung seines Erstlingsromans
im Frühjahr 1966 machte Handke, der damals eine Pilzkopf-Frisur im
Stil der Beatles trug, durch einen spektakulären Auftritt auf einer Tagung der Gruppe 47 in Princeton auf sich aufmerksam. Nach stundenlangen Lesungen
zeigte er sich angewidert von den Werken seiner etablierten Kollegen und hielt
eine längere Schmährede, in der er die „Beschreibungsimpotenz“ der Autoren
beklagte und auch die Literaturkritik nicht verschonte, „die ebenso läppisch ist wie
diese läppische Literatur“. Mit dieser Rede hatte er zugleich einen Tabubruch
begangen, da es auf den Treffen der Gruppe 47 unüblich war, allgemeine
Grundsatzdebatten über literarische Themen anzuzetteln. Grundlage der Gespräche
sollte immer der jeweilige Text bleiben, nicht das Wesen von Literatur an sich.
Eine erhaltene Tonbandaufnahme
zeugt davon, dass Handke Gelächter, Gemurmel und Zwischenrufe erntete, und
obwohl er einige Kollegen, unter ihnen Günter Grass – wie sich an deren späteren Kommentaren zeigen
sollte – durchaus getroffen hatte, wurde seine Kritik von anderen Teilnehmern
vereinnahmt, umformuliert und – etwas abgeschwächt – wiederholt und blieb im
Großen und Ganzen unwidersprochen. Handke hatte das literarische Establishment
ins Mark getroffen, und für die Feuilletons war sein Auftritt zu einem Diskussionsthema
geworden.
Transkription: Thomas Gollas
„Ich möchte zu dieser Art von Literatur, die hier bei der
Gruppe 47, wie auch zu dieser eben vorgetragenen Prosa, einige Sätze bemerken,
die ich im Verlauf dieser Lesung versucht habe aufzuschreiben. Ich bemerke,
dass in der gegenwärtigen deutschen Prosa eine Art Beschreibungsimpotenz
vorherrscht. Man sucht sein Heil in einer bloßen Beschreibung, was von Natur
aus schon das Billigste ist, womit man überhaupt Literatur machen kann. Wenn
man nichts mehr weiß, dann kann man immer noch Einzelheiten beschreiben. Es ist
eine ganz ganz unschöpferische Periode in der deutschen Literatur angebrochen
und dieses komische Schlagwort vom „neuen Realismus“ wird von allerlei Leuten
ausgenützt um doch da irgendwie ins Gespräch zu kommen, obwohl sie keinerlei
Fähigkeiten und keinerlei schöpferische Potenz zu irgendeiner Literatur haben.
Es wird überhaupt keinerlei Reflexion gemacht. Es wird eine Philosophie
vorgegeben, eine Weltanschauung vorgegeben, in dem man so tut, als gebe es nur
die Beschreibung von Einzelheiten und Vorgängen und das ist auch eine Art
„Cinema verité“ der Literatur, nach meiner Ansicht. Es ist zwar zu sehen, dass
gewisse Fehler der alten Literatur nicht mehr gemacht werden, z.B. wird mit
Metaphern sehr vorsichtig umgegangen, aber es ist zu beobachten, dass also vor
allem die Errungenschaften dieser neuen Literatur in einer Negation bestehen,
dass also die Fehler oder die Klischees der alten Literatur zwar abgeworfen
wurden, dass aber das Heil keineswegs in einer neuen Position gefunden wurde,
sondern in einer ganz primitiven und öden Beschränkung auf diese so genannte
„neue Sachlichkeit“. Und auch die Form dieser neuen deutschen Prosa ist
fürchterlich konventionell, vor allem im Satzbau, in der Sprachgestik
überhaupt. Auch wenn die einzelnen Worte, also wie gesagt, metaphernlos sind,
ist die Gestik dieser Sprache völlig öd und den Geschichten der früheren Zeiten
fürchterlich ähnlich. Das möcht‘ ich doch behaupten. (kleine Pause, Gemurmel im Publikum) Es ist hier eine Prosa zu
sehen und das Übel dieser Prosa besteht darin, dass man sie ebenso gut aus
einem Lexikon abschreiben könnte. Man könnte den Sprachduden, äh, diesen Bilderduden verwenden und diese Bilder
aufschlagen und auf die einzelnen Teile hinweisen und dieses System wird hier
angewendet und es wird vorgegeben
Literatur zu machen, was eine völlig läppische und idiotische Literatur ist. (aufbrausendes Gelächter des Publikums, auch
Applaus) Und die Kritik ist damit einverstanden, weil eben ihr
überkommenes Instrumentarium noch für diese Literatur ausreicht, gerade noch
hinreicht. (wieder durchaus wohlwollendes Gelächter des Publikums) Weil die
Kritik ebenso läppisch ist, wie diese läppische Literatur. Wenn nun eine neue
Sprachgestik auftaucht, vermag die Kritik nichts anderes, als entweder zu
sagen, das ist langweilig, sich in Beschimpfungen zu ergehen, oder eben auf
gewisse einzelne Sprachschwächen einzugehen, die sicher noch vorhanden sein
werden. Das ist die einzige Methode. Weil die Kritik, das Instrumentarium, das
überkommene, eben hier nicht mehr hinreichen kann, während sie bei dieser
läppischen Beschreibungsliteratur eben noch hinreicht, weil‘s eben hier adäquat
ist. Das Instrumentarium der Kritik ist genau dieser Literatur adäquat, die
hier vorhanden ist.“ (Aus dem
Publikum: „Herr Handke! Stopp mal! Sie
müssen zum Text sprechen“) Handke: „Ja, darf ich noch was sagen? Also es
ist die Hauptsache (? Unverständlich) in so einer Literatur, dass die so
genannte deutsche Gegenwart vorkommt. Es muss irgendwo, hinter der Hose, muss
irgendwie auch Auschwitz auftauchen, wenn auch nur in einem sogenannten
Nebensatz, oder ganz beiläufig, oder es muss jedenfalls beiläufig oder ganz
lässig muss es da sein, und, wobei man gar nicht bedenkt, dass …“
(Gelächter, Handke wird
von Veranstaltungsleiter unterbrochen: „Ja ich habe nicht soviel Zeit, wir
wissen jetzt genau, was sie meinen.“ Unruhe, Gemurmel und andere aus dem
Publikum unterstützen offenbar Handke, „na ja gut, weiter“, und er bekommt
nochmal das Wort.) Handke:
„Na ja ich möchte nur nochmal sagen … (Fassen
sie sich kurz, bitte Herr Handke!“) Handke: „Ich fasse mich so kurz wie möglich,
aber das ist, glaub‘ ich notwendig.“ („aber
kein Seminar!“) Handke: „Nein, man sagt zwar, man wisse, was man nicht mehr
schreiben dürfe, nicht? und man beschränkt sich nun auf diese gegenständliche
Prosa und man schreibt also Sachen, die … man beschreibt nur Gegenstände … ,
man weiß zwar, was man schreiben darf aber man weiß nicht was man nun schreiben
soll, nicht!, das ist glaub‘ ich das Grundproblem dieser ganz dummen und
läppischen Prosa, in jedem Fall.“
Günter Grass: „Also ich neige ja ohnehin dazu, mich betroffen
zu fühlen“ … (Gelächter… Grass sagt nun,
dass sich auch bei ihm einiges aufgestaut habe, dass er sich frage, warum
Germanisten Prosa schreiben müssten, die sich selber im Weg stünden und Angst
vor jedem normalen Satz hätten, usw. und er gibt Handke völlig recht. Auch
Hellmut Karasek gibt Handke teilweise recht, nimmt aber auch die kritisierte
Literatur in Schutz.)