Merz beklagt, daß es ihm
nicht gelinge seine Selbsttötung endlich in Angriff
zu nehmen. Stelle er sich vor, er bewege sich, nach
seinem endgültigen Entschluß und mit dem Auto
stark beschleunigend, auf den dicken Baum am
Straßenrand zu, tauche beim weiterführenden Gedanken sofort beispielsweise ein Radfahrer auf, der ihn
gerade im entscheidenden Moment mit Sicherheit
behindern würde, oder ein Fußgänger, vielleicht auf
der anderen Straßenseite, dem er dies nicht antun
könne, sodaß er sein Vorhaben abbrechen müsse.
Selbst wenn er davon ausgehe, daß er die tödliche
Dosis Schlaftabletten irgendwie beschaffen könne – was ihm wahrscheinlich allein schon so gut wie
unmöglich sei – was würde ihm im Kopf herumgehen, im Zeitraum zwischen Einnahme und einsetzender Wirkung? Das gleiche gelte für die Autoabgasmethode, stellt Merz fest. Der kurze Druck auf den Abzug einer Pistole
erscheine ihm noch am ehesten durchführbar. Manchmal, in größter Verzweiflung, habe er so große Sehnsucht nach einer Pistole, daß er laut danach schreie,
nachts, wach in seinem Bett liegend. Er sei aber zweifellos nicht in der Lage sich eine Pistole zu beschaffen. Er sei überzeugt, daß ihm jeder sofort ansehen
würde, was er damit zu tun vorhabe. Das Gleiche
gelte beispielsweise für den Apotheker, noch eher für
die Apothekerin, von der er sich die Tabletten versuchen würde zu besorgen. Ebenso gelte dies für den
zufälligen Spaziergänger, den er mit Sicherheit treffe,
unterwegs zu der hohen Brücke. In U-Bahnhöfen
werde mit Sicherheit immer, zu jeder Tages- und
Nachtzeit, jemand sein, der ihn beobachten würde,
bei seinem letzten Gang in die Tunnelröhre. Man
würde nach ihm rufen, ihn zurückhalten versuchen.
Nicht auszuhalten sei diese Vorstellung von Zeugen
bei dieser letzten Aktion, dem wohl absolut Intimsten, was man sich vorstellen könne. Merz beklagt,
daß ihm kriminelle Energie fehle und also die Eigenschaft, die es einem ermögliche, andere zu hintergehen, zu täuschen, zu betrügen, zu benutzen. Allein
schon das Sich-los-reißen im entscheidenden Moment sei ihm mit absoluter Gewissheit mangels Durchsetzungskraft nicht möglich. In einer verbrecherischen
Gesellschaft, so Merz, sei man ohne Verbrechertalent
und also der nötigen Skrupellosigkeit von vorneherein
zum Scheitern verurteilt. Merz jammert über seine
Ehrlichkeit, seine krankhafte Korrektheit. Denke er etwa an den betreffenden U-Bahnfahrer, so müsse
er sofort zumindest die U-Bahn-Methode verwerfen.
In einem Brief an meinen U-Bahnfahrer habe er versucht seine Handlungsweise zu rechtfertigen. Es sei
ihm nicht befriedigend gelungen. Gescheitert sei
er ebenso mit seinem Brief an meine Apothekerin,
mit seinem Brief an die Mutter meiner Kinder,
mit seinem Brief an meinen Polizisten und mit seinem Brief an den zufälligen Passanten. Seine gesammelten Abschiedsbriefe füllten mittlerweile einen
dicken Ordner. Merz stellt fest, es seien ausnahmslos
mißlungene Texte. Er vermutet, daß er wohl zu denjenigen gehöre, die sich, oben auf dem Dach des
Hochhauses, am Abgrund stehend, von dem für
solche Fälle psychologisch geschulten Feuerwehrmann oder Rettungssanitäter überreden lassen, aufzugeben und weiterzuleben.
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