28. September 2014

Aus "Schwarzes Loch" von Thomas Gollas S.34-38

Merz erläutert, in der Hauptsache habe ihr mit sehr viel und wahrscheinlich übertriebenem Ehrgeiz betriebener sogenannte berufliche Werdegang sie zu einem anderen, sehr veränderten und schließlich zu einem völlig fremden Menschen gemacht. Mehr und mehr sei sie zu einer Lehrerin geworden. Zuerst habe die Ehefrau die Geliebte verdrängt, bis die Geliebte nicht mehr da gewesen sei, dann habe die Mutter die Ehefrau verdrängt, bis die Ehefrau nicht mehr da gewesen sei und schließlich habe die Lehrerin die Mutter verdrängt, bis die Mutter nicht mehr da gewesen sei. Man könne sich als der betroffene Mann nichts Schlimmeres vorstellen, als daß das Geliebte-Sein über das Ehefrau-Sein und über das Mutter-Sein schließlich zu einem Lehrerin-Sein werde. Entsetzlich genug sei es ja schon, wenn die Geliebte zu einer Ehefrau werde. Grauenhaft genug, sei es, wenn die Ehefrau zu einer Mutter werde – wodurch sie früher oder später in der Familienalltäglichkeit sogar von ihrem Mann, der einmal ihr Geliebter war, Mama genannt werde. Aber das größte Unglück sei es zweifellos, wenn die Mutter dann auch noch zu einer Lehrerin werde. Lehrerin, das heiße notwendigerweise Lehrermethoden, das heiße Denken und Handeln in Lehrerkategorien, das heiße Belohnung, Bestrafung, Lob, Tadel unter ausschließlicher Zuhilfenahme von Lehrerkriterien. Lehrerkriterien, Lehrerkategorien, Lehrermethoden seien jedoch etwas ganz anderes und ungeheuerlicheres als Mutterkriterien, Mutterkategorien, Muttermethoden, genauso wie Mutterkriterien, Mutterkategorien, Muttermethoden etwas ganz anderes und ungeheuerlicheres seien als Ehefraukriterien, Ehefraukategorien, Ehefraumethoden, und so seien Ehefraukriterien, Ehefraukategorien, Ehefraumethoden eben auch etwas völlig anderes und ungeheuerlicheres als Liebeskriterien, Liebeskategorien, Liebesmethoden. Lehrerin, das heiße eben Lehrerregeln – nicht Mutterregeln, nicht Eheregeln, nicht Liebesregeln – das heiße beispielsweise Beurteilen von sehr gut bis ungenügend in sechs Notenstufen. Basta und punktum. Lehrerin, das heiße permanente Eintragungen in das Lehrerbüchlein, in dem unter dem Namen jedes Schülers alles und jedes notiert werde, damit am Ende des Schuljahres genügend Material zur Verfügung steht um Zeugnisse ausstellen zu können. Am Ende jeden Schuljahres habe schließlich der Lehrermensch rücksichtslos ein Lehrerurteil in Form eines Zeugnisses auszustellen und auszuhändigen. Dieses Urteil habe endgültig und gegen jeden Zweifel erhaben zu sein. Nur ein immer Recht habender Lehrermensch könne ein funktionierender Lehrer sein. Lasse ein Lehrer den kleinsten Zweifel an seiner Urteilsfähigkeit zu, erlaube sich der Lehrermensch die geringsten Skrupel, unterhöhle er naturgemäß seine Autorität und die Folge sei das unausweichliche Scheitern als Lehrer. 
Die Lehrernatur, die sich seine Lehrerfrau im Laufe ihrer Lehrerjahre angeeignet habe, so Merz, sei mehr und mehr und zwangsläufig auch in das private Leben und also in den Familienalltag eingeflossen. Merz selbst habe diese Zusammenhänge zunächst garnicht bemerkt und sei dieser Verwandlung der Natur seiner Frau in eine Lehrernatur absolut hilflos gegenübergestanden. Er, Merz, als schöpferischer und damit notwendigerweise zweifelnder und damit notwendigerweise an sich selbst verzweifelnder Mensch sei blindlings in die Katastrophe getappt. Daß die Mutter seiner Frau und also seine Schwiegermutter ebenfalls Lehrer gewesen war und daß deren Vater und also der Großvater seiner Frau mütterlicherseits Lehrer gewesen war und daß der Vater seiner Frau  und also sein Schwiegervater Staatsbeamter war, wenn auch in anderer Funktion, und dessen Vater, also der Großvater seiner Frau väterlicherseits wiederum Lehrer gewesen war, daß es sich also bei der Familie und den Ahnen seiner Frau um eine Lehrerfamilie und eine Staatsbeamtenfamilie, und also sozusagen um eine Lehrerdynastie und eine Staatsbeamtendynastie handelte, traue er sich gar nicht recht zu erwähnen, da ihm dann spöttische Reaktionen wie: Aber dann hätten sie das doch wissen müssen! und: Dann sind sie doch selbst schuld! und: Man heiratet doch als schöpferischer Mensch keine Frau aus einer Lehrer- und Staatsbeamtendynastie! sicher seien, befürchtet Merz. Mehr und mehr habe seine Frau – der Lehrermensch aus einer Lehrerdynastie – das Familienleben lehrergemäß organisiert und reglementiert, wie man eine Schulklasse eben organisiere und lehrergemäß reglementiere. Wer hat Tafeldienst? Wer sammelt die Hefte ein? Wer gießt die Blumen? Wer hat Verantwortung zu übernehmen und wie wird er seiner Verantwortung gerecht? Sehr gut? Gut? Befriedigend? Ausreichend? Mangelhaft? Ungenügend? Seine Frau sei durch das völlige Eintauchen in die Lehrerexistenz tragischerweise der Lehrerselbstgerechtigkeit, der Lehrerignoranz, des Lehrerhochmuts und somit der Lehrerselbstüberschätzung und also letztlich ganz und vollkommen der Lehrernatur erlegen. Hinzu käme, so Merz, und dies sei möglicherweise das eigentliche Unglück, daß er selbst sich, während seine Frau sich in einen Lehrermenschen verwandelt habe, beziehungsweise sich das Lehrerwesen seiner Frau immer mehr entpuppt hätte, mehr und mehr in einen Zweifelsmenschen und also in einen verzweifelten Menschen verwandelt habe. Auf der einen Seite sei ein lieber und geliebter Mensch zu einem Lehrermenschen geworden, während gleichzeitig auf der anderen Seite ein lieber und geliebter Mensch zu einem Zweifels- und also zu einem Verzweiflungsmenschen geworden sei. Schließlich habe seine Frau in unbarmherziger Rücksichtslosigkeit und mit der im Laufe ihrer Lehrerjahre zwangsläufig sich angeeigneten Lehrerskrupellosigkeit mit dem äußersten Lehrermittel reagiert und habe ihn – Ungenügend! Setzen! – sitzengelassen und aus ihrer Schule und damit aus ihrem Lehrerleben verwiesen.

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