27. September 2014

Aus "Schwarzes Loch" von Thomas Gollas S.155-159

Dieses Jahr sei, berichtet Merz, nicht nur ein Jahr der Trennung und des Verlustes, sondern auch das Jahr der Lärmbelästigung gewesen. Seit Ostern habe er im Büro in ständiger Gegenwart von Bohrern, Kreissägen, Mörtel- und Betonmischmaschinen, Preßlufthämmern, und Hochdruck-Verputz-Geräten arbeiten müssen. An manchen Tagen sei direkt an und in der, seinen Büroraum begrenzenden Außenwand gearbeitet worden. Manchmal habe er das Gefühl gehabt, daß da jemand direkt von hinten in seinen Schädel bohre. Er habe einige Male sein Büro fluchtartig verlassen müssen, weil er sonst in irgendeiner Weise ausgerastet wäre. Ein paarmal habe er sich vorgestellt und sich ergötzt an dem Gedanken, hinaus und hinüberzugehen, auf die Baustelle und dort jeden brutal zusam-menzuschlagen, der ihm über den Weg laufe. So außer sich sei er gewesen. Er habe dann aber doch nur geschrien. Natürlich habe er den Lärm nicht übertönen können, aber es sei befreiend gewesen, wenn auch nur für einen Moment. Er habe es als eine existentiell bedrohliche, zumindest gesundheits-gefährdende Störung empfunden, so Merz empört, ja, als eine Folter, vor allem wegen des langen Zeitraums, über den sie sich erstreckte. 
Beim Bau erfolge, wie in vielen anderen Bereichen auch, der Einsatz moderner und damit lärmerzeugender Technik allein aus Effizienzgründen, und nicht, wie häufig behauptet werde, aus humanitären Gründen. Die viel beschworene Humanisierung der Arbeitswelt stelle sich nun als reiner Betrug heraus. Niemals sei es jemandem, der damit zu tun hatte, um Humanisierung gegangen. Dies sei nichts als ein beschönigendes Schlagwort, mit dem die Arbeitnehmervertreter mit ins Boot des sogenannten Fortschritts gezogen worden seien, die offensichtlich garnicht merkten, daß es in Wahrheit um die Einsparung von Arbeitsplätzen gegangen sei. Es sei immer, und zwar schon von Anfang an, nur um Kostenersparnis und sogenannte Wettbewerbszwänge gegangen. – Heutzutage hießen die Zauberworte, mit Hilfe derer die in hundert Jahren erkämpften Errungenschaften der abhängig Beschäftigten Stück für Stück abgebaut würden, Standort Deutschland, Globalisierung etc. – Die sogenannte Humanisierung der Arbeitswelt sei also von Anfang an und immer schon als Entmenschlichung der Arbeitswelt gedacht gewesen, wogegen er im übrigen gar nichts habe, wenn die Maschinen erträgliche Geräusche von sich geben und man die dann zwangsläufig entstehende, sogenannte Arbeitslosigkeit der Menschen aus der Tasche der Unternehmer und also der Geschäftemacher und nicht aus staatlichen und gemeinschaftlichen Töpfen finanziere. 
An einem besonders zermürbendem Tag habe er es mit einer, offenbar mit Preßluft betriebenen Maschine zu tun gehabt, die Estrichmasse mischt und zwar mit einer solch nerven-zerfetzenden Lärmentwicklung, daß ihm wirklich jedes konzentrierte arbeiten unmöglich geworden sei. Auf seinen Hinweis, daß man Estrich auch schon gemischt habe, als es solche Maschinen noch nicht gegeben habe, sei ihm von dem Bauleiter – der ihm im übrigen zu Beginn der Bauarbeiten mal versprochen hätte, alles zu tun, um die Lärmbelästigung so gering wie möglich zu halten – am Telefon gesagt worden, daß man heutzutage nirgends eine Firma finden könne, die Estrich wie früher, also ohne Lärmentwicklung herstelle und zwar aus Zeit-, Kosten- und damit Wettbewerbsgründen. Durch die Maschine entstehe also ein Vorteil für das Bauunternehmen und zwar zu seinem persönlichen und nicht unerheblichen Nachteil, stellt Merz fest. Das Unerträgliche beispielsweise an einer Bohrmaschine, die direkt in deine Wand bohre, sei weniger die Lautstärke und das spezifische Geräusch an sich, es sei die Unregelmäßigkeit. An eine stundenlang, ohne Pause arbeitende Bohrmaschine gewöhne man sich irgendwann in gewisser Weise. Aber diese unregelmäßigen Ruhepausen, mit der immer wiederkehrenden Hoffnung, daß es vielleicht jetzt endlich ganz aufhört und der jedesmal wieder völlig überraschende neuerliche Lärm, immer wieder etwas andersartig und nie monoton, zwinge einen immer wieder diese Geräusche geradezu zu denken. Merz erinnert sich in diesem Zusammenhang an eine Foltermethode, die in einer Karl-May-Geschichte beschrieben sein soll. Der bewegungsunfähig gefesselte Delinquent werde von einzelnen Wassertropfen traktiert, die auf seinem Kopf zerplatzen. Auch hier sei das Geheimnis der größten Qual die perfide Unregelmäßigkeit, auch und vor allem mit hin und wieder längeren Pausen, wodurch immer und immer wieder die Hoffnung auf ein Ende der Folter genährt werde, die sich aber nie erfülle.

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