Als ich elf Jahre alt war, stürmte jemand aus dem
Treppenhaus in unsere Küche, wo wir gerade beim Abendessen saßen, erschoss
meinen Vater und verschwand. Der Mann war maskiert, mit einer über das Kinn
heruntergezogenen Strickmütze, aus deren herausgeschnittenen,
grob ausgefransten Sehschlitzen Augen herausblitzten, die ich nie vergessen habe,
denn heute noch sehe ich in mancher schlaflosen Nacht diesen maskierten Kopf
und diese Augen vor mir.
Das Auftauchen, die Tat und das Verschwinden des
Mörders, hat nicht länger als zwanzig Sekunden gedauert. Nicht genug Zeit um
richtig zu erschrecken oder sonst in irgendeiner Form zu reagieren. Erst als
der Täter verschwunden war, erschraken meine Mutter und ich beim Anblick meines
Vaters, dessen Kopf vornüber auf den Teller gesunken war. Sein Blut, das aus
einer kleinen, runden Schusswunde an der rechten Schläfe heraustropfte, setzte
einen hellroten Fleck auf die dunkle Bratensoße, der sich Tropfen für Tropfen
vergrößerte und ich erinnere mich, dass ich diesen Vorgang, diese kleine
Bewegung, mit dem leisen Tropfgeräusch, einige Augenblicke lang seltsam fasziniert beobachtete, gebannt, träumerisch und also geradezu hypnotisiert – als
ob alles Drumherum, die Welt, das Leben, die Zeit, für einen Moment
stillstünden – bis die Flüssigkeit den Tellerrand erreichte, überlief, abfloss
und auf dem Tischtuch einen Fleck erzeugte in dem sich schließlich die beiden
Farben unvollkommen mischten, wie verschiedenfarbige Tinten auf einem
Löschblatt.
Die entsetzten Hilfeschreie meiner Mutter nahm ich währenddessen
wie durch etwas Schalldämpfendes hindurch wahr, als sei ich von durchsichtiger
Watte umgeben, die mich schützend abpolsterte gegen die Wirklichkeit. Den
Bissen, den ich gerade im Mund hatte und auf dem ich die ganze Zeit herumgekaut
hatte, musste ich wieder auf meinen Teller spucken. Es war mir unmöglich ihn
noch zu schlucken. Meine Mutter sprang hinter mich, packte mich an meinen
Schultern, zog mich zu sich hoch und drehte mich zu sich herum. „Schau nicht
hin, schau nicht hin!“ schrie sie und zerrte mich dabei ganz vom Tisch weg,
wodurch ich zwangsläufig meinen Stuhl umstieß, der laut klappernd auf den Boden
kippte.
Dann war einen Moment absolute Stille. Ich hörte in diesem Augenblick
nur leise die Blutstropfen meines Vaters in die Soße fallen. Ein sehr feines,
einzelnes, regelmäßiges Tröpfeln, das mit dem monotonen Ticken der Küchenuhr an
der Wand eine Art Duett veranstaltete.
Nach einem Aufseufzen ließ mich meine
Mutter los und fiel in Ohnmacht. Bevor ich mich zu ihr knien und mich um sie
kümmern konnte, hörte ich schon erregte, rufende Stimmen und polternde Schritte
aus dem Treppenhaus. Die nur angelehnte Tür wurde aufgestoßen und der über
uns, im zweiten Stock, lebende Nachbar stürzte herein. Er war Feuerwehrmann und
gewohnt anzupacken, wenn Unfälle oder anderes Unglück geschehen waren. Mit einem
Blick erfasste er die Situation. Mein erschossener Vater am Tisch, meine
ohnmächtige Mutter auf dem Boden und ich, völlig verstört, mitten im Raum
stehend.
Später, und immer, wenn die Sprache auf dieses schreckliche Geschehen
kam, wurde gesagt – und ich musste mich dafür immer wieder schämen – um meine
Mundwinkel hätte ein rätselhaftes Lächeln gespielt. Oben, um die Augen herum,
sei ich ernst, schockiert, entsetzt, betroffen gewesen, in den Augen die nackte
Angst, wie es sich in einer solchen Situation gehört. Unten jedoch, um die
Mundwinkel herum, sei dieses rätselhafte Lächeln gewesen.
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