2. Oktober 2014

Aus "Glück" von Thomas Gollas (unvollendet)

Als ich elf Jahre alt war, stürmte jemand aus dem Treppenhaus in unsere Küche, wo wir gerade beim Abendessen saßen, erschoss meinen Vater und verschwand. Der Mann war maskiert, mit einer über das Kinn heruntergezogenen Strickmütze, aus deren herausgeschnittenen, grob ausgefransten Sehschlitzen Augen herausblitzten, die ich nie vergessen habe, denn heute noch sehe ich in mancher schlaflosen Nacht diesen maskierten Kopf und diese Augen vor mir. 
Das Auftauchen, die Tat und das Verschwinden des Mörders, hat nicht länger als zwanzig Sekunden gedauert. Nicht genug Zeit um richtig zu erschrecken oder sonst in irgendeiner Form zu reagieren. Erst als der Täter verschwunden war, erschraken meine Mutter und ich beim Anblick meines Vaters, dessen Kopf vornüber auf den Teller gesunken war. Sein Blut, das aus einer kleinen, runden Schusswunde an der rechten Schläfe heraustropfte, setzte einen hellroten Fleck auf die dunkle Bratensoße, der sich Tropfen für Tropfen vergrößerte und ich erinnere mich, dass ich diesen Vorgang, diese kleine Bewegung, mit dem leisen Tropfgeräusch, einige Augenblicke lang seltsam fasziniert beobachtete, gebannt, träumerisch und also geradezu hypnotisiert – als ob alles Drumherum, die Welt, das Leben, die Zeit, für einen Moment stillstünden – bis die Flüssigkeit den Tellerrand erreichte, überlief, abfloss und auf dem Tischtuch einen Fleck erzeugte in dem sich schließlich die beiden Farben unvollkommen mischten, wie verschiedenfarbige Tinten auf einem Löschblatt. 
Die entsetzten Hilfeschreie meiner Mutter nahm ich währenddessen wie durch etwas Schalldämpfendes hindurch wahr, als sei ich von durchsichtiger Watte umgeben, die mich schützend abpolsterte gegen die Wirklichkeit. Den Bissen, den ich gerade im Mund hatte und auf dem ich die ganze Zeit herumgekaut hatte, musste ich wieder auf meinen Teller spucken. Es war mir unmöglich ihn noch zu schlucken. Meine Mutter sprang hinter mich, packte mich an meinen Schultern, zog mich zu sich hoch und drehte mich zu sich herum. „Schau nicht hin, schau nicht hin!“ schrie sie und zerrte mich dabei ganz vom Tisch weg, wodurch ich zwangsläufig meinen Stuhl umstieß, der laut klappernd auf den Boden kippte. 
Dann war einen Moment absolute Stille. Ich hörte in diesem Augenblick nur leise die Blutstropfen meines Vaters in die Soße fallen. Ein sehr feines, einzelnes, regelmäßiges Tröpfeln, das mit dem monotonen Ticken der Küchenuhr an der Wand eine Art Duett veranstaltete. 
Nach einem Aufseufzen ließ mich meine Mutter los und fiel in Ohnmacht. Bevor ich mich zu ihr knien und mich um sie kümmern konnte, hörte ich schon erregte, rufende Stimmen und polternde Schritte aus dem Treppenhaus. Die nur angelehnte Tür wurde aufgestoßen und der über uns, im zweiten Stock, lebende Nachbar stürzte herein. Er war Feuerwehrmann und gewohnt anzupacken, wenn Unfälle oder anderes Unglück geschehen waren. Mit einem Blick erfasste er die Situation. Mein erschossener Vater am Tisch, meine ohnmächtige Mutter auf dem Boden und ich, völlig verstört, mitten im Raum stehend. 
Später, und immer, wenn die Sprache auf dieses schreckliche Geschehen kam, wurde gesagt – und ich musste mich dafür immer wieder schämen – um meine Mundwinkel hätte ein rätselhaftes Lächeln gespielt. Oben, um die Augen herum, sei ich ernst, schockiert, entsetzt, betroffen gewesen, in den Augen die nackte Angst, wie es sich in einer solchen Situation gehört. Unten jedoch, um die Mundwinkel herum, sei dieses rätselhafte Lächeln gewesen.

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